„Unbeschränkte Handlungsfreiheit, um die Feinde des Proletariats zu schlagen“, verlangte der Gründer der bolschewistischen Geheimpolizei Feliks Dserschinski. Sein Motto: Erst töten, dann fragen.
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Die Story ist so hässlich, dass man sie sich gar nicht vorstellen mag: Wenn Angehörige der bolschewistischen Geheimpolizei Tscheka einen echten oder vermeintlichen Gegner besonders grausam foltern wollten, dann steckten sie eine Ratte in ein Eisenrohr und pressten es gegen den Leib des Gefangenen. Dann hielten sie eine brennende Fackel an das andere Ende des Rohrs. Für die panische Ratte gab es nur noch einen Ausweg: sich durch den Menschen hindurchzufressen.
Diese Geschichte jedenfalls steht in einer 64-seitigen Broschüre mit dem Titel „Der Blutrausch des Bolschewismus. Berichte eines Augenzeugen über die Schreckensherrschaft der Bolschewisten in Russland“, die ein gewisser Robert Nilostonski 1920 bei der Neudeutschen Verlags- u. Treuhand-Gesellschaft in Berlin erscheinen ließ.
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Wahrscheinlich handelte es sich bei „Robert Nilostonki“ um ein Pseudonym. Seine überaus grausamen, teilweise gewaltp*rnografischen Schilderungen lassen sich im Detail nicht bestätigen; die Rattenfolter zum Beispiel ist als Methode aus der chinesischen Geschichte belegt, abseits von Nilostonskis Broschüre jedoch offenbar nicht aus dem russischen Bürgerkrieg.
Das ist aber auch nicht entscheidend. Wichtig ist vielmehr: Anfang der 1920er-Jahre wurde diese Schilderung zumindest in Deutschland geglaubt. Man traute der Tscheka buchstäblich jede und damit auch diese Grausamkeit zu.
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Gewaltforschung ist aktuell einer der interessantesten Trends in der internationalen Geschichtswissenschaft. Seit Timothy Snyders Weltbestseller „Bloodlands“ über das Gebiet Ostmitteleuropas, in dem 1932 bis 1945 mindestens 14 Millionen Menschen abseits von Kriegshandlungen gewaltsam ums Leben kamen, weiß das auch die breite Öffentlichkeit. Wesentlich bei der Entgrenzung der Gewalt war der russische Bürgerkrieg 1917 bis 1922, aus dem die Bolschewiki als Sieger und die Sowjetunion als neues Staatsgebilde hervorgingen.
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Der Historiker Jan Claas Behrends vom Potsdamer Zentrum für zeithistorische Forschungen beschäftigt sich mit einem der zentralen Akteure bei dieser Explosion der Gewalt: der Tscheka. Er nennt sie ein „kommunistisches Terrorinstrument“. Aber diese grundsätzliche und selbstverständlich richtige Charakterisierung genügt nicht, das Phänomen Tscheka zu verstehen.
Gegründet wurde die „Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“ gerade einmal sechs Wochen nach dem Staatsstreich der Bolschewiki in St. Petersburg, genau: am 20. Dezember 1917. Drei Monate später hatte sie schon 600 Mitarbeiter, Ende des Jahres 12.000 und 1921, gegen Ende des Bürgerkrieges, einschließlich spezieller ihr unterstellter Truppen fast 300.000 Männer.
„Die Aufgabe des modernen Staates ist es, seine Bürger zu schützen. Daraus bezieht er seine Legitimität“, sagt Behrends zu Recht: „Die Bolschewiki stellten diese Ordnung auf den Kopf. Sie schufen einen Staat, dessen primäres Anliegen es war, in der Lage zu sein, seine Bürger zu verfolgen.“ Von Beginn an stellten die führenden Funktionäre, angefangen bei Lenin und Trotzki, klar: „Die bolschewistische Diktatur würde niemand Schutz gewähren. Es handelte sich um eine Ordnung der Ungleichheit, die vor keinem Unrecht halt machen würde, um die Macht der Bolschewiki zu verteidigen. Das entsprach der Logik des Bürgerkriegs und der Überzeugung der Akteure.“
Bereits Ende 1917 hatte es Feliks Dserschinski, Gründer und erster Kommandeur der Tscheka, so formuliert: „Wir können mit Gerechtigkeit nichts anfangen. Wir befinden uns im Krieg, und zwar an der grausamsten aller Fronten, der inneren Front, und der Feind ist auf dem Vormarsch, und es ist ein Kampf um Leben und Tod!“
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In so einem Kampf schien natürlich jedes Mittel recht – in Dserschinskis Worten: „Unbeschränkte Handlungsfreiheit, um die Feinde des Proletariats zu schlagen.“ Ihm war „jegliche juristische Pedanterie“ ein Graus. Man kann auch sagen: erst töten, dann fragen.
Die Folgen waren ungeheure Grausamkeiten, Brutalität um ihrer selbst willen. Unvorstellbar schien angesichts der tatsächlichen Exzesse der Tscheka buchstäblich gar nichts mehr, auch nicht die Rattenfolter.
Woher aber kam diese Neigung zur Gewalt? War sie dem Kommunismus immanent, der Ideologie der Volksbeglückung durch die Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels? Hier ist Behrends, der unter anderem auch zur Rolle von Gewalt und Gewaltandrohung im Spätsozialismus forscht, vorsichtig.
Natürlich fachten die Bolschewiki den Sturm der Gewalt im staatsfreien Raum des Bürgerkrieges bewusst an – auf dem Land ebenso wie in den Städten: „Jegliche Form von Autorität und Ordnung gingen verloren“, beschreibt Behrends die Folgen. Dabei war dann auch die Tscheka „häufig nicht mehr als eine weitere Gewaltmeute unter vielen anderen“.
Spezifisch ideologisch getrieben aber war zumindest die Tscheka, also die bolschewistische Geheimpolizei der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution in Abgrenzung von ihren direkten Nachfolgern GPU und NKWD, später dem sowjetischen KGB und heute dem russischen FSB. Mit den zunehmend ausgefeilten bürokratischen Apparaten dieser Dienste hatte Dserschinkis Apparat noch nicht viel gemein.
Die Tscheka war „die roheste Form kommunistischer Staatlichkeit“, urteilt Behrends: „Ihre Gewalt konnte sich während des Bürgerkriegs praktisch gegen jeden wenden: die Intelligenzija, streikende Arbeiter, oft als ,Banditen‘ bezeichnet, Bauern oder nationale Minderheiten.“ Angesichts der Beliebigkeit ihrer Opfer wurden ihr auch alle, selbst die grausamsten Methoden zugetraut. Und so wenig man belegen kann, dass Bolschewiki die Rattenfolter tatsächlich einsetzten, so wenig kann man es ausschließen.
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